„Cruising“ in Graz

#08

Durch das Gutachten des Gerichtsarztes Dr. Karl Kautzner, abgedruckt im zweiten Band in dem vom Grazer Kriminologen Hans Gross 1898 gegründeten „Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik“ sind wir über Details über die ersten sexuellen Handlungen zwischen zwei Männern in Graz informiert, die überliefert sind. Möglich wurde dies Ende des 19. Jahrhunderts durch das Zusammenwirken zweier Disziplinen, die sich für Homosexualität interessieren: die Medizin und die Kriminologie.

Am 4. Mai 1899 um 21.45 Uhr wurde einer Polizeistreife mitgeteilt, dass in der (heute nicht mehr existenten) unterirdischen Toilette am Mariahilfer-
platz „was los sei“. Die Polizisten ertappten schließlich zwei Männer in „einem Cabinette“: dorthin war ein Mann dem anderen gefolgt um mit diesem dort den Oralverkehr durchzuführen. Der so aktive Mann war ein 44jähriger praktischer Arzt aus der Provinz mit bestem Ruf, der seit drei Jahren in Graz lebte. Schon früher, im September oder Dezember des Vorjahres, sei er „wieder von seinem Drange befallen worden“ und hatte mit einem Mann unter einer Brücke wechselseitige Onanie betrieben. Diesmal sei er „auf dem Murkai zum Mariahilferplatze“ spazieren gegangen: „Wie nun ein Mann in den Abort eingetreten sei und sein Glied entblößt hätte, sei er auch in das Cabinet getreten und habe ihn onaniert. Die Thür sei halb offen gewesen, und der Schein der Laterne sei in den Abort hereingefallen. Er habe nichts gesprochen, ebenso auch der ihm unbekannt gewesene Mann, der willenlos alles mit sich geschehen habe lassen.“ Das medizinische Gutachten vermerkte über den verhafteten Arzt, dass „weder in seiner Bauart, noch auch in seinem ganzen Gebahren […] etwas ausgesprochen Weibisches zu erkennen [ist], trotzdem aber dürfte der Kenner doch bei ihm die Homosexualität gleich vermuthen“. Eine Sinnesverwirrung oder „unwiderstehlicher Zwang“ könne keinesfalls behauptet werden.

Von den konkreten sexuellen Handlungen erfuhr die Polizei zunächst nur durch den zweiten beteiligten Mann, dem als „Opfer“ (fälschlich) Straflosigkeit zugesichert worden war. In Wirklichkeit wurde der „Complice“ jedoch, wie der Arzt, mit sechs Monaten Kerker bestraft. Von den völlig konsensualen sexuellen Handlungen (für das sogenannte „Cruising“ typisch ohne Worte, da die Beteiligten ja einerseits mit einem Motiv an diesem Ort sind und andererseits mit Erkennungscodes vertraut) hätte die Polizei sonst keine nachweisen können.